Zeitzeug:in

Henriette

Henriette nahm einen gefährlichen Fluchtversuch auf sich, um zu ihrem damaligen Verlobten in Hamburg zu gelangen. Sie selbst sagt, dass sie eine „typische Romeo und Julia Geschichte“ erlebt hat: Bei einem Austausch zwischen den jungen Gemeinden Hamburg und Berlin lernte Henriette einen jungen Mann kennen. Sie verliebten sich und die Verlobung fand recht schnell danach statt. Henriette und ihr Verlobter wollten zusammen sein und so gab es erste Überlegungen, dass ihr Verlobter zu ihr nach Jena kommen solle. Als dies für beide keine Option war, entschlossen sie sich, dass Henriette fliehen solle. Viele Fluchtpläne verwarfen sie wieder, da sie zu gefährlich waren und so entschieden sie sich letztlich für eine Fluchthilfeorganisaton. Mit Hilfe dieser Organisation sollte ihre Flucht über das heutige Tschechien bzw. die damalige Tschechoslowakei gelingen. Mittlerweile sollte nicht nur Henriette fliehen, auch ihr Bruder begleitete sie auf der Flucht. Sie erfuhren erst vor Ort in Prag, dass ihre Flucht nicht wie versprochen mit gefälschten Pässen stattfinden würde. Stattdessen mussten sie sich in der Zwischendecke eines Kleinbusses verstecken. An der Grenze zwischen Tschechien und Österreich, bei Mikulov, wurden sie bei einer Kontrolle durch einen Grenzbeamten entdeckt. Sie kamen zunächst in Tschechien in Haft und wurden im November 1971 der DDR übergeben. Dort kam Henriette in Untersuchungshaft in Berlin-Hohenschönhausen, wo sie auch die sogenannte weiße Folter erfuhr. Diese beinhaltete unter anderem Schlafentzug, Lügen und Einzelhaft ohne jegliche Einflüsse von außen. 

Nach ihrer Verurteilung zu dreieinhalb Jahren Haft gingen die Verhöre jedoch nahtlos weiter. Zudem musste sie dort in einer Näherei arbeiten und nähte unter anderem Gardinen für den westdeutschen Neckermannkatalog. Vor Ablauf ihrer Haftstrafe erhielt sie am 07. Oktober 1972 eine Amnestie. Henriette durfte einen Monat später, am 08. November 1972, mit dem Bus aus der DDR ausreisen. In diesen Bus stiegen in Thüringen, kurz vor der Grenze zu Hessen, während der Fahrt die Rechtsanwälte Jürgen Stange und Wolfgang Vogel. In ihrer Ansprache wiesen sie darauf hin, dass sie sich in Briefen, die sie an Verwandte und Freunde in die DDR schreiben würden, vor allem mit ihren Emotionen zurückhalten sollten und eine negative Bewertung der DDR zu vermeiden sei. Auch Besuche in den nächsten zwei Jahren in die DDR seien nicht möglich. Eigentlich hätte Henriette zunächst in das Notaufnahmelager Gießen kommen sollen. Da dies aber überfüllt war, wurde sie nach Hanau weitergeschickt. Dort erhielt sie 5 DM. Dieses Geld nutzte sie für ihren ersten Anruf, konnte so ihren damaligen Verlobten in Hamburg kontaktieren und kam schließlich in die Hansestadt, in der sie bis heute lebt. 

AUDIOFILES

Persönliche Dokumente/Quellen

Der Entlassungsschein, mit dem Henriette 1972 offiziell aus der Staatsbürgerschaft der DDR entlassen wurde. Über das Foto sagt Henriette heute, dass sie bewusst nicht in die Kamera geschaut hat (Copyright: Zeitzeugin Henriette)

Henriette (links im Bild) bei einer Hochzeit von Freunden kurz nach ihrer Ankunft in Hamburg (Copyright: Zeitzeugin Henriette)

Der offizielle Beschluss für Henriettes Rehabilitation über die Aufhebung des Urteils vom 23. März 1972, beschlossen durch das Bezirksgericht Gera vom 10. Juni 1991 (Copyright: Zeitzeugin Henriette)

Dokument der Staatsanwaltschaft Hamburg aus dem Jahr 1972, in dem Henriettes Haftstrafe für unzulässig erklärt wird (Copyright: Zeitzeugin Henriette)

»Orte der (Un-)Sichtbarkeit« ist ein Kooperationsprojekt des Arbeitsfeldes Public History der Universität Hamburg und der Landeszentrale für politische Bildung Hamburg. Es wird im Bundesprogramm »Jugend erinnert«, in der Förderlinie SED-Unrecht der Bundesstiftung Aufarbeitung gefördert.

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